Alle haben mir davon abgeraten, nach Donezk zu fahren, alle. Dort herrsche schließlich Krieg und ich könne umkommen oder als westliche Staatsbürgerin entführt werden. Tagelang herrschte dicke Luft in meiner Familie, nachdem ich dieser meinen Plan offenbart hatte. Doch die, die meine Geschichte etwas kennen, wissen, dass ich vor kaum etwas zurückschrecke und mich auch schon nicht davon abhalten lassen habe, 2016 auf die Krim zu fahren. Ehrlich gesagt habe ich extra, aus Prinzip, auf der Krim für meine Abschlussarbeit geforscht, nachdem mir meine Uni aus politischen Gründen jegliche Unterstützung entsagt hatte und ich von vielen für mein Vorhaben für irre gehalten wurde. Als Resultat hatte ich übrigens einen erfüllenden, hochspannenden und völlig ungefährlichen Aufenthalt auf der Krim und schrieb eine Abschlussarbeit, die für einiges an Aufsehen gesorgt hat.
Mit Donezk verhält es sich nun ähnlich. Seit meiner Ankunft bin ich in keine gefährliche Lage geraten, habe keine einzige zwielichtige oder auch nur betrunkene Gestalt gesehen und bewaffnete Soldaten lediglich an der Grenze getroffen. Die Donezker leben ein – fast – normales Alltagsleben. Fast, weil sie seit mittlerweile knapp acht Jahren unter permanenter Anspannung stehen. Die Menschen hier sind des Krieges spürbar müde geworden. Die entfernten Schüsse und Explosionen, die nicht täglich, aber doch regelmäßig in der Stadt zu hören sind, erinnern immer wieder an den Ernst der Lage. Nicht viele laufen hier fröhlich lachend durch die Straßen und erfreuen sich eines leichten, sorglosen Lebens.
Wobei es hier dem durchschnittlichen Bürger an nichts mangeln muss: Die Supermärkte sind gut gefüllt (hauptsächlich mit russischen Produkten), Cafés und Restaurants geöffnet, genauso wie Theater, Kino oder Fitnessstudios. Die erhältlichen Lebensmittel befriedigen übrigens nicht nur die Grundbedürfnisse, sondern bieten den Käufern z. B. auch verschiedene Sorten italienischen Kaffees, deutsche Ritter Sport Schokolade und ausgefallenere Dinge wie Reis- oder Buchweizenmilch. Neueste technische Geräte oder saisonale Markenklamotten sind in den Einkaufshäusern ebenfalls erhältlich. Optisch sind die meisten Menschen durchschnittlich normal gekleidet und gepflegt. Als Frau ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass sich der Großteil der Damenwelt die Fingernägel im Nagelstudio machen lässt.
Zum Zustand der Stadt an sich lässt sich Folgendes feststellen: Im Zentrum gibt es keine kriegsgeschädigten, halb zerstörten Gebäude, auch wenn den Gebäuden, Straßen und Bürgersteigen oftmals anzusehen ist, dass seit mehr als sieben Jahren kein Geld mehr in ihre Instandhaltung investiert wurde.
Am Stadtrand in Richtung Ukraine ist die Lage natürlich eine völlig andere. Insgesamt ca. 28.000 Häuser sind im Verlauf des Krieges zerstört worden, knapp die Hälfte wurde bisher wiederaufgebaut. Donezk war bis zum Ukrainekrieg die fünftgrößte Stadt der Ukraine. Mir wurde mit glänzenden Augen beschrieben, wie es hier noch kurz vor Beginn des Krieges ausgesehen hatte, wie das Leben regelrecht pulsierte und die Straßen zu jeder Tag- und Nachtzeit voller Menschen gewesen waren. Heute ist beim Spaziergang durch die Stadt sicht- und spürbar, dass die Hälfte der Bevölkerung geflohen ist, um anderswo ein besseres Leben zu suchen. Immer wieder werde ich gefragt, „warum zum Teufel ich aus Deutschland nach Donezk“ gekommen bin. Tja, gute Frage. Fortsetzung folgt.