23.12.2021
Wir treffen uns auf dem Parkplatz von „Abzhora“, auf Deutsch: „dem Verfressenen“. Ich steige zu Andrej Lycenko ins Auto, wir sehen uns zum ersten Mal. Andrej ist ein schlanker, dunkelhaariger Mann um die 50 mit ost-slawischen Gesichtszügen. Er hat eine freundliche, offene Art, strahlt jedoch eine gewisse Ernsthaftigkeit aus, wie ich sie bei jedem Menschen hier in Donezk wahrnehme. Seit bereits acht Jahren herrscht in ihrer Heimat, dem Donbass, Krieg und ein Ende ist immer noch nicht abzusehen.
Andrej und ich düsen sofort los – Richtung graue Zone, wo er seit Beginn des Krieges täglich humanitäre Hilfe leistet. Als graue Zone wird der Grenzbereich zwischen der Lugansker und der Donezker Volksrepublik auf der einen und der Ukraine auf der anderen Seite bezeichnet. Was den meisten von uns im Westen nicht klar ist (weil es auch nicht in den Medien berichtet wird): In dieser Zone, wo seit acht Jahren täglich geschossen wird, leben Menschen. Normale, friedliche Menschen, Familien mit Kindern, die das Pech hatten, dass die ukrainischen Streitkräfte im Zuge des Krieges ausgerechnet bis zu ihren Häusern vorrücken konnten und ihre Nachbarschaft damit in ein Gefechtsgebiet verwandelten. Der Weg zur Arbeit, der Weg zur Schule, der Weg zum Supermarkt bedeutet für sie seitdem – Lebensgefahr.
Ich schreibe diese Zeilen am 23. Dezember, kurz nachdem ich aus den Medien erfahren habe, dass ein Mann aus dem nahegelegenen Alexandrovka heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit von Ukrainern angeschossen wurde und seitdem im OP mit dem Leben kämpft. Es sieht nicht gut aus. Andrej ist sofort zu seiner Familie gefahren, die er seit vielen Jahren betreut. Die Menschen der grauen Zone vertrauen ihm. Auch für die Medien ist er Ansprechpartner Nummer eins für alles, was dort passiert, Informationen über derartige Vorkommnisse erhalten sie oft über ihn als erstes.
Bei meiner ersten Fahrt in die graue Zone fahren wir in verschiedene süd-westlich gelegene Stadtviertel Donezks, unter anderem auch nach Alexandrovka. Um in die Zone zu gelangen, müssen wir durch zwei schwer bewaffnete Kontrollposten, die sogenannten „Blockposts“ durch, die an jeder gen Westen (also Richtung Ukraine) führenden Straße eingerichtet wurden. Die Soldaten kontrollieren uns nicht – sie erkennen Andrejs Auto bereits von weitem und winken uns einfach hindurch. Nach den zwei, einige hundert Meter voneinander entfernten Kontrollposten, folgt eine dritte Barriere, die jedoch komplett gesperrt ist: die Grenze zur Ukraine. Kurz vorher biegen wir links ab und fahren durch ein Wohngebiet. Die meisten Häuser sind in irgendeiner Weise beschädigt: Ich sehe überall Einschusslöcher, zerbrochene Fenster, Brandschäden. Besonders die hier vielverwendeten Wellblechzäune sind oftmals hundert-, wenn nicht tausendfach durchlöchert. Einige Häuser sind komplett zerstört, andere offensichtlich seit längerem verlassen.
Plötzlich halten wir an und Andrej weist mich darauf hin, mich so leise wie möglich zu verhalten und stets sofort auf seine Anweisungen zu reagieren. Er steigt aus, horcht. Alles ruhig, keine Schüsse zu hören. Auch ich steige aus. Andrej holt eine große Plastiktüte mit Lebensmitteln aus dem Kofferraum und bedeutet mir, ihm zu folgen. Wir laufen zu einem kleinen Häuschen mit blauen Fensterrahmen, Andrej klopft an der Tür. Fast eine Minute lang rührt sich nichts, dann klopft er ans Fenster. Schließlich öffnet sich die Tür und wir sehen einen älteren Mann auf dem Boden hocken. Er hat keine Beine und sitzt auf einem Holzbrett mit Rollen. Andrej bedeutet mir, dass ich ihn ruhig filmen darf. Ich filme die heruntergekommene Küche, in der wir uns befinden und das kleine Zimmer nebenan – mehr gibt es hier nicht. Mir wird erklärt, dass der Mann am Boden Sascha heißt und vor einigen Jahren draußen, in seinem eigenen Garten angeschossen wurde. Er lebt allein und ist ohne Beine komplett auf Hilfe von außen angewiesen. Andrej stellt die Einkäufe ab und weiter geht’s zum nächsten Haus.
Mit dem Verstand ist es nicht zu begreifen, was hier vor sich geht, warum die ukrainische Seite seit Jahren die Zivilbevölkerung terrorisiert. Ich schreibe dies bewusst einseitig, da die Donezker Volksmiliz dies andersherum nämlich nicht tut. Die „bösen Separatisten“, wie sie in unseren Medien oft genannt werden, verteidigen sich lediglich gegen die täglichen Provokationen der ukrainischen Streitkräfte – das kann ich nach nunmehr fast zwei Monaten Aufenthalt, zahlreichen Gesprächen und eigenen Beobachtungen bestätigen. Für die Donezker Seite ist es unbegreiflich, wie die Ukrainer nicht einmal davor zurückschrecken, auf Schulen zu schießen. So wurden im November innerhalb von zehn Tagen gleich drei Schulen im Donbass beschossen.
Zurück zu unserer Tour in die graue Zone. Nach dem Besuch bei Sascha waren wir noch bei einem 7-jährigen Mädchen mit ihrem Opa, der an Krebs erkrankt ist. Die Eltern sind umgekommen. Für die beiden gab es eine Kleidungs-, Essens- sowie eine Geldspende. Andrej filmt die Übergabe für seine Kanäle in den sozialen Medien, um den Spendern zu zeigen, dass ihre Hilfe auch wirklich dort landet, wo sie hingehört. Ich mache ein Foto von der Szene, wie das Mädchen lächelnd ihre neue Jacke vor die Kamera hält – hinter sich das Einfahrtstor, das mit Einschusslöchern durchsäht ist.
Weiter fahren wir zu einer Mutter mit kleiner Tochter, Sveta, die mir in ihrem blau-gelbem Bademantel entgegen geht und zunächst ihr Gesicht versteckt. Mutter und Tochter sind ungesund dünn. Wir betreten ihr Grundstück und den Anblick, der sich mir bot, muss ich danach einige Tage verdauen: Das zweistöckige Haus wurde offensichtlich von einer Granate getroffen und ist einseitig komplett in sich zusammengefallen (Titelbild). Die Eltern der Frau sind dabei umgekommen, wird mir erzählt. Seit 2014 leben sie unter diesen Bedingungen und können nirgendwo sonst hin – kein Geld. Mir schnürt sich die Kehle zu und ich habe offen gestanden Probleme, alles zu verarbeiten.
Nach diesem Besuch geht es zurück durch die Kontrollposten nach Alexandrovka, das zwar innerhalb der Stadtgrenze liegt, aber durch die Nähe zur Ukraine trotzdem zur grauen Zone gezählt wird. Hier besuchen wir eine Mutter mit zwei Kindern, denen wir ein Essenspaket überreichen. Gefilmt werden möchte die Frau nicht, doch sie erzählt mir, wie sie letztes Jahr mit den Mädchen fast 12 Monate im Keller leben musste, da jeden Tag auf das Dorf geschossen wurde. Einmal sei sogar eine Granate in den Hof geflogen, kurz nachdem die Mädchen noch dort gespielt hatten. Für mich klingen diese Erfahrungen völlig unvorstellbar.
In Gedanken versunken fahren wir zurück ins Zentrum von Donezk. Mit völlig anderen Augen schaue ich um mich herum auf das normale, zivilisierte Leben, auf gut gekleidete Menschen, Schönheitssalons und gefüllte Restaurants mit lachenden Besuchern. Gerade einmal 20 Minuten sind wir gefahren – und doch liegen Welten zwischen den Stadtbereichen.
Wer den Menschen in der grauen Zone über Andrej spenden möchte, kann dies über die PayPal Adresse: [email protected] tun. Seinen Telegram-Kanal findet ihr unter: t.me/lisenko1972